Der Tagesspiegel

 

Theater kommt von Theorie

Nachwuchsregisseur Jan-Philipp Possmann stößt mit Laien und Profis an die Grenzen des Dramatischen

von Johannes Völz

 

Ein junger Mann im Wollpulli schiebt einen grünen Gummiball vor sich her, zwei Mädchen unterhalten sich in Gebärdensprache, eine Frau mit lila Haaren fragt auf hessisch, ob es bald weitergehe. Wie Schauspieler sehen sie nicht aus. Und doch, dies ist der Proberaum des Theater am Halleschen Ufer in Kreuzberg. Mittendrin steht Jan-Philipp Possmann und gibt Regie-Anweisungen. Der Einzige vom Fach, man sieht es ihm an: aufrechte Haltung, groß und schlank, ein Tänzer könnte er sein.
"Hört mal alle her", ruft er, "wir müssen die Auf- und Abgänge proben". Die Frau mit den lila Haaren betritt die Bühne und noch bevor sie ihr erstes Wort zu Ende gesprochen hat, unterbricht er sie: "Stopp mal, warte einen Tick länger, bevor du anfängst".
Es sieht aus, als probe Possmann hier ein Theaterstück mit Laienschauspielern. Nur: Das wäre viel zu simpel für den Jungregisseur. Gemeinsam mit der Off-Theatergruppe "Postproduktion" hat er bereits zwei Avantgarde-Stücke am Theater am Halleschen Ufer inszeniert, es ging dabei um ziemlich abstrakte Themen wie Repräsentation und Projektionen.
Um ein Experiment handelt es sich auch beim neuen Stück "Fürsprecher", das am Donnerstag Premiere hat. Ausgebildete Schauspieler treten gemeinsam mit Menschen auf, die noch nie auf der Bühne standen. Die Idee: Die Laien spielen keine fiktive Rolle, sie spielen sich selbst. Acht Solo-Auftritte folgen aufeinander, die professionellen Schauspieler sprechen Texte von Handke und Kafka, die Laien erzählen aus ihrem Leben oder demonstrieren den Jargon ihres Berufs. Ein Arzt bringt einem imaginären Patienten bei, dass er an Multipler Sklerose leidet. Ein Freestyle-Rapper improvisiert auf der Bühne. Ein Herr um die 50 versucht, eine Rede Gerhard Schröders vorzutragen, scheitert aber, weil er sich die Schlagworte nicht merken kann.
Eine übergreifende Handlung gibt es nicht, auf der Bühne stehen nur zwei schwarze Stellwände und ein paar Stühle. Doch trotz dieser kargen Mittel ist der Probendurchlauf von "Fürsprecher" vor allem eines: kurzweilig. Ein Stück, das hin- und herpendelt zwischen Anrührendem und Talkshow-Persiflage, absurdem Theater und Politik-Satire in der Tradition Loriots.
"Der Impetus war, etwas zu machen, das ich noch nicht gesehen habe und wirklich sehen möchte", sagt der 26-Jährige nach der Probe. Das bedeute zwangsläufig, sich von den Klischees des Avantgarde-Theaters zu verabschieden. Meist ginge es auf den Off-Bühnen ja darum, "möglichst eklig, abstoßend oder erschreckend zu sein", sagt Regieassistentin Agnes-Lisa Wegner, die gemeinsam mit Possmann am Konzept des Stücks gearbeitet hat. Sie stellt klar: "Wir haben nicht den Anspruch, das Publikum zu ärgern".
Was nicht heißen soll, dass hinter dem simplen Stück keine komplizierten Gedanken stecken. Eine 20-seitige Mappe hat Possmann zusammengestellt, ein theaterhistorisches wie politisches Thesenpapier. Ob das Stück diese Reflexionen auch wirklich vermittelt, findet er allerdings zweitrangig: "Spannendes Theater zu machen verträgt sich nicht direkt mit theoretischem Nachdenken. Es ist doch langweilig, wenn auf der Bühne wissenschaftlich doziert wird."
Je länger Possmann spricht, desto unerklärlicher wird allerdings, warum "Fürsprecher" weitgehend unberührt von wissenschaftlichen Thesen bleibt. Denn in seinen Sätzen spricht nicht der Regisseur, sondern der Geisteswissenschaftler. Je theoretischer die Gedanken werden, desto ausholender seine Gestik. Es gehe ihm um "die Materialität der Sprache". Er will die verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten in unserer Gesellschaft nicht nur dokumentieren, er will auch zeigen, wie "durch die Auswahl der Sprache etabliert wird, wer sich wozu äußern darf". Und er möchte herausfinden, was das Authentische im Theater bedeutet: "Gibt es einen erkennbaren Unterschied zwischen einem Schauspieler und jemandem, der auf der Bühne er selbst ist? Ich weiß es einfach nicht".
Dass Possmann nicht in die Falle tappt, Theorie statt Theater zu inszenieren, liegt wohl daran, dass er schon reichlich praktische Erfahrung gesammelt hatte, als er an der Freien Universität Theater- und Politikwissenschaft zu studieren begann. Mit 16 Jahren die erste Hospitanz, dann zu Tom Stromberg ans Theater am Turm in Frankfurt, in den frühen Neunzigerjahren eine der besten Off-Bühnen Europas. Von da weiter zur Frankfurter Oper und für zwei Sommer als Regieassistent ans oberbayerische Weilheimer Sommertheater. Vom Erfolg von "Fürsprecher" will er abhängig machen, ob er nach dem Studium ausschließlich als freier Regisseur arbeiten wird. "Wenn das Stück nicht gut ankommt", sagt er nach kurzem Zögern, "dann mache ich erst noch mehr Theorie".

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Postproduktion Berlin, 2002